38. Kapitel

 

Am Himmel zeichnete sich bereits in rosa Streifen die Morgendämmerung ab, als sich die Kutsche dem Stadthaus näherte. Die beiden Männer darin schwiegen, die Arme um ihre Ehefrauen gelegt. Sie genossen die momentane Ruhe. Es war eine schwierige, anstrengende Nacht gewesen, vor allem für Angelica und Violet, die mit ihren Bräuchen noch nicht so vertraut waren und vor einer Exekution natürlich zurückschreckten.

Als die Kutsche durch das Tor des Anwesens fuhr, regte sich Patrick ein wenig. Er wollte Violet nicht wecken. Sie hatte so erschrocken, so entsetzt ausgesehen, als die Urteile vollstreckt wurden und als man später die Scheiterhaufen entzündete, um die Leichen derer zu verbrennen, die er getötet hatte.

Er wusste, dass sie ihm deswegen keine Vorwürfe machte, aber es war nicht leicht für sie und ihre Cousine gewesen, das mit ansehen zu müssen.

»Patrick?«, murmelte Violet verschlafen. Alexander schien dies als Stichwort aufzufassen und weckte lächelnd seine eigene Frau.

»Sind wir schon daheim?«, fragte Angelica, ohne die Augen aufzuschlagen.

»Ja«, antwortete Alexander sanft. »Willst du aufwachen, oder willst du in der Kutsche bleiben und weiterschlafen?«

Sie schaute ihn mit einem zusammengekniffenen Auge an. »Das würde dir so passen, nicht wahr? Damit du dir eine andere suchen kannst, die das Bett mit dir teilt!«

»Es kann keine andere geben, Angelica. Es gibt nur dich.«

»Hast du das gehört, Patrick Bruce? Warum sagst du nie solche Sachen zu mir?«, beschwerte sich Violet.

In diesem Moment kam die Kutsche zum Stehen.

Patrick schüttelte leidgeprüft den Kopf. »Siehst du, was du angerichtet hast, Alexander? Jetzt werde ich nie wieder Ruhe haben.«

Sein Freund lachte. Der Page sprang ab und öffnete den Kutschenschlag. Patrick stieg aus und wandte sich um, um seiner Frau aus der Kutsche zu helfen. Violet legte ihre Hand in die seine, doch dann erstarrte sie. Ihre Nasenflügel zitterten, ihr Blick richtete sich erschrocken aufs Haus.

»Die Kinder! Ich kann sie nicht riechen!«

Violet war aus der Kutsche gesprungen, ehe Patrick reagieren konnte. Sogleich rannte er ihr hinterher, und auch Alexander und Angelica folgten ihnen. Mit wild klopfendem Herzen sah er, dass die Haustüre aufgebrochen worden war. Wo waren James' Wachen?

Violet blieb in der Eingangshalle stehen. Panisch schaute sie sich um.

»Mikhail?«, rief Angelica erschrocken. »Nell!«

Totenstille.

Alexander verschwand nach draußen. Patrick versuchte ruhig zu bleiben. Er holte tief Luft, versuchte zu überlegen. Seine Kleine war fort. Er spürte jetzt selbst die unheimliche Leere des Hauses. Seine kleine Catherine! Wenn man ihr etwas angetan hatte ...

»Violet, bitte konzentrier dich. Ich muss wissen, wer da war. Kannst du was riechen?«

Violet klammerte sich kreidebleich an Angelica, aber Patrick war froh, dass beide Frauen sich im Griff hatten und nicht hysterisch geworden waren. Dafür war jetzt keine Zeit.

»Verschiedene Gerüche«, erklärte sie knapp. »Ich weiß nicht genau, wie viele, aber sie haben sich aufgeteilt.« Violet straffte ihre Schultern. Sie schritt in der Halle umher, schloss dabei die Augen, um sich besser auf ihren Geruchssinn konzentrieren zu können. »Es waren fünf. Und sie sind da lang gegangen!«

Violet rannte los, in den Gang hinein, der zum Musiksalon führte.

Als sie den Raum erreicht hatten, blieben sie abrupt stehen. Mehrere Stühle waren umgeworfen worden, eine Vase war zerbrochen, und an einem Fenster hing der Vorhang herunter. Hier hatte ganz offensichtlich ein Kampf stattgefunden. Patrick trat in die Mitte des Raums, versuchte sich vorzustellen, was hier passiert sein mochte. Er ballte zornig die Fäuste.

»Mikhail und Nell waren mit den Kindern hier. Er muss mit ihnen gekämpft haben, aber ich kann weder ihn noch sie im Haus riechen. Sie müssen sie mitgenommen haben.«

In diesem Moment tauchte Alexander mit grimmiger Miene auf. »Die Wachen sind tot. Dies hier fand ich auf einer der Leichen.«

Patrick warf nur einen kurzen Blick auf den blutverschmierten Zettel und wusste sofort, worum es sich handelte. »Was verlangen sie?«

»Dich, mich, Ismail und James, im Austausch für die Kinder und Mikhail.«

Nell wurde nicht erwähnt. Sie war doch nicht etwa getötet worden? Patrick zuckte nicht mit der Wimper. Er erlaubte sich keinerlei Emotionen, nicht jetzt. »Wann?«

»In vier Tagen. Hundert Meilen entfernt von hier, im Norden. Wir müssen allein kommen. Wenn wir Verstärkung mitbringen, töten sie die Geiseln.«

»Schick einen Boten zu James. Ich werde Ismail Bescheid geben.«

»Nein!«, protestierte Angelica. »Das ist eine Falle! Sie werden euch alle fangen und euch und die Kinder töten. Alexander, du darfst nicht allein gehen!«

»Beruhige dich, Angel«, sagte Alexander sanft. »Wir können niemanden mitnehmen. Sie sind Vampire. Sie würden es riechen, wenn wir Verstärkung dabeihätten. Sie würden wissen, dass wir gegen ihre Auflagen verstoßen. Wir dürfen nicht riskieren, dass sie deinem Bruder oder den Kindern etwas antun.«

Patrick wusste, dass Alexander recht hatte. Aber er wusste auch, dass Angelica recht hatte. Es war eine Falle, in die sie direkt hineintappen würden. Aber was hatten sie für eine Wahl?

»Wir kommen mit«, erklärte Violet fest. Sie war jetzt vollkommen ruhig, ihre Panik war verschwunden. Sie sah aus wie damals, als sie mit einem Dolch auf den Mann losgegangen war, den sie für den Mörder ihres Vaters hielt.

Er wusste, Reden hier nichts helfen würde. Aber er würde sie einsperren, wenn er musste, um ihrer eigenen Sicherheit willen. Zunächst jedoch musste er sich mit Alexander besprechen. Sie mussten Vorsorge treffen, für den Fall dass sie nicht lebend zurückkehrten. Angelica und Violet mussten in Sicherheit gebracht werden.

»Moment!«, rief Angelica plötzlich aus. Ihr Blick war auf ein Notenblatt gefallen, das auf dem Notenständer lag. Rasch ging sie hin und nahm es zur Hand. Der Titel lautete »Für Elise«, aber Elise war durchgestrichen und stattdessen »Angel« hingeschrieben worden. Angelica überflog das Blatt, konnte aber nichts entdecken. Doch als sie es umdrehte, schnappte sie überrascht nach Luft.

»Eine Nachricht! Mikhail hat uns eine Nachricht hinterlassen!« Stirnrunzelnd versuchte Angelica die hastig hingekritzelten Worte zu entziffern. »Ramil. York. Rumley. Ramil, York, Rumley! Was hat das zu bedeuten?«

Aber Patrick begriff und eilte zu ihr. »Rumley. Das ist ein Landsitz des Nordclans, unweit von York. Eine alte, verfallene Burg, dort lebt schon lange niemand mehr.«

»Nell. Sie muss es vorausgesehen haben!«, keuchte Violet. »Bringt man sie dort hin? Nach Rumley?« »Ja.«

Alexander sagte dies mit einer Sicherheit, die Patrick überraschte. »Sie werden nach Rumley gebracht. Und Ramil ist derjenige, der sie entführt hat.« »Du kennst ihn?« »Ich kenne ihn.«

Alexander warf einen raschen Blick auf seine Frau und schaute dann wieder Patrick an. »Er ist Sergejs Bruder.«

Angelica rang erschrocken nach Luft. Der Mann, der ihren Bruder und ihr Kind entfährt hatte, war der Bruder des Mannes, dem sie vor zwei Jahren beinahe zum Opfer gefallen wäre.

Ramil wollte Rache, daran bestand kein Zweifel. Rache für den Tod seines Bruders. Und das bedeutete, dass es noch weniger Zeit zu verlieren galt.

»Wir müssen sofort aufbrechen. Die Zeit drängt.«

Alexander nickte zustimmend. »Wenn wir sofort aufbrechen, können wir sie vielleicht noch überraschen. Ich werde James eine Botschaft senden. Er soll Männer zusammensuchen und unterwegs zu uns stoßen.«

»Wir kommen mit.«

Violet und Angelica hatten sich untergehakt und blickten ihre Männer entschlossen an.

Patrick wusste, dass Reden jetzt nichts genützt hätte. Er würde später einen Weg finden, sie aus den Gefahren herauszuhalten. Aber jetzt mussten sie schleunigst aufbrechen.

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